WiYou . Wirtschaft und Du . Ausgabe 52015
Wer möchte?
Wie man eine beliebig große Gruppe geschwätziger Nichtzuhörer in Sekundenschnelle in einen Haufen mucks
mäuschenstiller Kaninchen vor der Schlange verwandelt? Ganz einfach: Man sagt so etwas wie: „Dann würde ich
jetzt einen von Ihnen bitten. Wer möchte …?“ Was wer möchten soll, das ist dabei eigentlich erstmal egal, denn in
der Regel möchte ohnehin keiner. Gut, vielleicht Pralinen verkosten bei einer Produktpräsentation, aber jetzt hier
im MessePresseWorkshop („Wie jetzt? Das ist gar kein Vortrag, in dem man sich nur berieseln lässt? Man muss
mitmachen? Stand da wirklich Workshop und nicht Vortrag?) möchte ganz offensichtlich gerade keiner. Denn seit
der motivierte Tonangeber Besagtes sagte und von seinem Flipchart aus das Wort weiterzugeben versucht, sind
alle Teilnehmer in eine Art Schockstarre verfallen und angestrengt damit beschäftigt, eben nicht teilnehmen zu
müssen. Auch die Damen, die bis eben noch überaus mitteilungsbedürftig schienen und fast schon störend die ge
samte letzten Reihen unterhielten, sind plötzlich nicht mehr zu hören.
Ich sitze etwas weiter vorn, aber ich möchte auch nicht. Nicht ganz so offensiv nicht, wie der Herr, der bis eben
noch rechts neben mir platzgenommen hatte, sich inzwischen aber feige davonund zur Tür hinausstahl, aber im
merhin so sehr nicht, dass ich meine KlappteigentlichimmerganzgutStrategie in Form von Block und Stift aus
packe und das mache, was Presse eben so macht: Notizen. Da man mir hier direkt auf den Block schauen kann,
muss ich auch tatsächlich was zu Papier bringen – in hinteren Reihen reicht es in derartigen Situationen erfah
rungsgemäß, den Stift zu bewegen. Aber gut, ich muss eh noch ein bisschen was zur vorangegangenen
Veranstaltung vermerken und streiche mich schreibend von der Liste der zur Auswahl Stehenden, indem ich mit
Nachdruck den Eindruck vermittle, auf keinen Fall und unter keinen Umständen gestört werden zu dürfen.
Außer dem geschäftigen Kratzen meines Stiftes hört man ein leichtes Räuspern, ein unterdrücktes Husten – aber
kein erlösendes: „Okay, ich“. Unausgesprochen sind wir, bis eben größtenteils Fremde, plötzlich zu einer verschwo
renen Gemeinschaft zusammengewachsen. Unsere Strategie ist klar: Wir sitzen es aus! Das nennt man wohl
Gruppenantidynamik. Ich bin sicher auch nicht die Einzige, die sich auf die Schulbank zurückversetzt fühlt. Damals,
wenn der Lehrer im Bewusstsein eines kurzen Momentes vollkommener Macht durch die Reihen schritt oder mit
dem Finger betont langsam über die Namensliste fuhr, nachdem er eine spontane mündliche Kurzkontrolle ver
kündend in der Klasse augenblicklich für Ruhe und gesenkte Kopfe gesorgt hatte. Bloß kein Blickkontakt! Das scheint
eine Grundregel im Kampf gegen das Ausgewähltwerden zu sein – altersunabhängig. Auch jetzt sind auffällig viele
Scheitel nach vorn und Augenpaare nach unten gerichtet. Irgendjemand kramt. Es raschelt. Ein anderen wippt mit
dem Fuß gegen ein Stuhlbein. Die einzigen Laute gegen die nervöse, angespannte Stille. Hmm, ich habe die zweite
Seite voll und wage einen kurzen Blick in Richtung Gefahr: Ist er überhaupt noch da? Ja. Und er sieht ein wenig ver
loren aus. Etwas verkrampft, hilflos, leicht verzweifelt. Er möchte wohl grad auch lieber nicht – nicht hier sein. Es
ist eher unwahrscheinlich, dass es demnächst klingelt und die Stunde rum ist. Also was soll´s?! Ich packe Stift und
Block zur Seite, all meinen Mut zusammen und schaue ihm gerade in die Augen, wie ein Schüler, der am Vorabend
gelernt hat.
Schussi, eure Mamu